Biografien  

Horst Tietz

geboren 11.03.1921 Hamburg
gestorben 28.01.2012 Hannover

Horst Tietz
Horst Tietz 1948 (Privatarchiv: Familie Tietz)

Beruf Student, später Hochschullehrer
Wohnort bei Verhaftung Marburg
Haftzeitraum März/April 1944

Biografie

Horst Willy Julius Amandus Tietz wird 1921 als einziges Kind von Willy und Amanda Tietz, geb. Cornils, in Hamburg geboren. Sein Vater ist jüdischer Herkunft, jedoch bereits 1885 gemeinsam mit seinen Eltern zum evangelischen Glauben konvertiert und wie seine fünf Geschwister getauft und christlich erzogen worden.

Horst Tietz wächst in Hamburg im engen Familienverband seiner Eltern mit seiner Großmutter Ingeborg Cornils, seiner Tante Anna und deren Sohn Rolf auf. Beruflich ist sein Vater erfolgreich tätig als Inhaber eines Holzkommissionsgeschäftes, das er unter der Firma „Willy Tietz - Holz-Commission“ betreibt. Wie bereits sein Cousin Rolf besucht Horst die private Grundschule des jüdischen Ehepaares Moosengel und nach bestandener Aufnahmeprüfung das Kirchenpauer-Realgymnasium für Jungen.

Zunehmende Anspielungen von Lehrern und Schülern zwingen seine Eltern, ihn über den Antisemitismus aufzuklären. Denn trotz ihres christlichen Glaubens gilt sein Vater nach der nationalsozialistischen Abstammungslehre als „Jude“ und Horst mit Rücksicht auf seine „arische“ Mutter als „Mischling ersten Grades“. In der Schule dreht sich der Unterricht um die nationalsozialistische Rassenlehre, es werden Lieder der Hitlerjugend (HJ) gesungen. Horst, der als einziger seiner Klasse nicht in der HJ ist und keine braune Uniform trägt, gerät in zunehmende Isolation und muss entwürdigende Behandlungen über sich ergehen lassen (z.B. Vermessung seines Kopfes im Biologieunterricht mit dem sog. Schädelzirkel). Sein Vater muss durch den „arischen Status“ seiner Ehefrau zwar keinen Judenstern tragen, ist jedoch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 zunehmend massiven Anfeindungen, Bedrohungen und Repressionen ausgesetzt, wodurch die Existenz der Familie in Bedrängnis gerät. Um seinem Vater weitere Demütigungen zu ersparen, übernimmt Horst Behördengänge für seinen Vater und lässt sich mit Erreichen der Volljährigkeit 1942 als Inhaber der Firma, nunmehr zwangsweise „Willy Israel Tietz – Holz Commission“ eintragen. Faktisch führt aber Willy Tietz die Geschäfte weiter.

Trotz dieser massiven Belastungen entwickelt sich Horst zu einem außerordentlich begabten Schüler mit besonderem Interesse an der Mathematik. Nach seinem Abitur 1939 wird er zunächst in den Reichsarbeitsdienst einberufen, wenige Monate später aber beurlaubt, um in Berlin ein Chemiestudium als sog. „kriegswichtigen“ Studiengang aufzunehmen. Im Januar 1940 kann er endlich in Hamburg ein Mathematikstudium aufnehmen. Bereits im Dezember 1940 wird er jedoch vom Studium ausgeschlossen, da ein Geheimerlass Hitlers keine „Mischlinge ersten Grades“ mehr zum Studium zulässt. Ein Gnadengesuch seines Cousins Rolf als Offizier der Wehrmacht bleibt erfolglos, hat allerdings furchtbare Konsequenzen. Rolf wird degradiert und nach Russland versetzt, wo er 1942 fällt. Seine Mutter erhält die Todesnachricht am 9. März 1942 und nimmt sich in derselben Nacht das Leben.

Durch die Unterstützung zweier Professoren (Hecke und Zassenhaus) kann Horst Tietz sein Studium nach seiner Zwangsexmatrikulation noch einige Zeit als „Schwarzhörer“ fortsetzen. Als er von einer Studentin denunziert wird, muss er die Universität Hamburg gänzlich meiden, erhält aber weiterhin private Unterrichtsstunden von Professor Zassenhaus.

Bei den Luftangriffen auf Hamburg in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 verlieren Horst Tietz und seine Eltern ihre Wohnung und sämtlichen Besitz. Aus Sorge vor einer Abschiebung in den Osten entscheiden sie, nach Marburg zu ziehen, wo sich seine Eltern kennengelernt hatten. Dort werden sie von ihrer Vermieterin denunziert und Heiligabend 1943 zur örtlichen Gestapo bestellt. Im Zuge eins stundenlangen dramatischen Verhörs versucht sein Vater, sich das Leben zu nehmen, während seine Mutter das Ansinnen der Gestapo, sich von „dem Juden“ zu trennen, um freigelassen zu werden, zurückweist. Letztlich werden sie im Marburger Landgerichtsgefängnis in Einzelzellen untergebracht.

Am 6. März 1944 werden sie als Gestapo-Gefangene dem sog. „Arbeitserziehungslager“ Breitenau überstellt. Horsts Mutter wird von ihnen getrennt, Horst und sein Vater werden in der Landarbeit eingesetzt. Unter den unmenschlichen Haftbedingungen und Misshandlungen erkrankt sein Vater schwer. Als Horst nach vergeblichen Bitten um medizinische Hilfe für seinen Vater in dessen Zelle verlegt wird, ist dieser schon nicht mehr bei Bewusstsein. Auf dem Weg zu seinem im Sterben liegenden Vater sieht Horst Tietz im Nebenhof einige weibliche Gefangene, die auf ihren Abtransport in das KZ Ravensbrück warten. Eine kahlgeschorene Frau winkt ihm weinend zu. Es ist seine geliebte Mutter, die er nicht mehr wiedersehen wird.

Und auch seinen Vater verliert Horst Tietz in dieser Nacht, er stirbt in den Morgenstunden des 23. April 1944 in den Armen seines Sohnes. Nach einer kurzen Totenwache muss sich Horst Tietz einem Transport ins KZ Buchenwald anschließen. Dort wird ihm im Juli 1944 ein Sonderbrief in das KZ Ravensbrück genehmigt und er erhält von dort am 20. Juli 1944 die für ihn unfassbare Mitteilung, dass seine „Mutter Amanda Tietz am 5. Juni 1944 im hiesigen Lager verstorben“ sei. Die näheren Umstände ihres Todes sind nicht bekannt.

Im KZ Buchenwald erhält Horst Tietz als „Politischer Häftling“ eine roten „Winkel“ und die Lagernummer 14768. Er erlebt - schwerkrank - die Befreiung Buchenwalds durch die US-Amerikanische Armee am 11. April 1945.

Auf Kohlenzügen schlägt sich Horst Tietz nach Marburg durch, dann weiter in die „Trümmerstadt“ Hamburg, um dort seine „bürgerlichen“ Probleme zu regeln und sein Studium wieder aufzunehmen. Im Rathaus lernt er seine spätere Ehefrau Liselotte Wiese kennen. Sie heiraten am 26. Juli 1948 und bekommen später zwei Töchter, Anna-Cornelia, geb. 1952, und Ingeborg, geb. 1955.

Sein erstes Nachkriegssemester absolviert Horst Tietz noch in Hamburg und wechselt dann nach Marburg, wo er sein Staatsexamen in Mathematik und Physik absolviert und im Mai 1950 promoviert. Nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent an der TH Braunschweig und seiner Habilitation 1955 an der Universität Münster ist er von 1962 bis zu seiner Emeritierung 1989 als angesehener und bei den Studierenden sehr beliebter Mathematikprofessor an der Universität Hannover tätig. Ihm werden zahlreiche Ehrungen zuteil.

Nach 62 Ehejahren stirbt Lieselotte Tietz im Januar 2010. Zwei Jahre später folgt Horst Tietz seiner geliebten Ehefrau am 28. Januar 2012 im 91. Lebensjahr.

Die geschriebene Biografie beruht auf den Erinnerungen und Schreiben der Familie Tietz, sowie der unveröffentlichten Autobiografie von Horst Tietz "Aus dem Leben durch die Hölle zum Polarstern".

Zu den ausführlichen Biographien gelangen Sie hier

Weitere Quellen: 

Epheser, Helmut, Horst Tietz – 60 Jahre, Mathematische Semesterberichte (1981), 163 ff.

Schumacher, Georg, Akademische Festveranstaltung Marburg (2000): Goldenes Doktorjubiläum  Prof. Dr. Horst Tietz, unveröffentlichtes Manuskript

Sonar, Thomas, Prof. Dr. Horst Tietz, Ein Nachruf, Jahrbuch der BWG (2012), 282 ff.

Tietz, Horst, Ein Abend der Erinnerung, Manuskript (1995)

Tietz, Horst, Erlebte Geschichte, Mein Studium – meine Lehrer, DMV-Mitteilungen (1999), 43 ff.

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Horst Tietz
Horst Tietz 1948 (Privatarchiv: Familie Tietz)